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Wenn Kinder sich selbst im Weg stehen

“Nicht schon wieder ein Projekt in der Schule!” Silvans Mutter ist verärgert. Was für viele Kinder eine angenehme Abwechslung vom Schulalltag darstellt, bedeutet für den 12jährigen Silvan und seine Eltern nur zusätzlichen Stress. “Er braucht viel Struktur und Routine. Vor allem jetzt, da bald der Übertritt in die Sekundarstufe ansteht“, sagt seine Mutter beim persönlichen Gespräch.

Silvan hat lange gebraucht, um schaukeln und schwimmen zu lernen. Den Stift hielt er lange Zeit sehr ungeschickt, zudem hatte er Probleme beim Ausschneiden und Basteln. Von der Wandtafel etwas abschreiben und sich dabei den Inhalt einprägen? Fehlanzeige. Sich mit den anderen Jungs für die Turnstunde umziehen, während alle rumalbern? Klappt nicht. Die Schuhe binden und gleichzeitig dem Vater zuhören? Lieber eines nach dem anderen.

Schwierigkeiten bereits im Kindergarten

Die Herausforderungen, die sich Leon und seiner Familie stellen, klingen ähnlich wie Silvans Geschichte. Auch Leon fiel bereits im Kindergarten als Störenfried auf. Oft hatte auch er keine Lust zum Malen oder Basteln. Und wenn er dennoch gegen seinen Willen zum Mitmachen aufgefordert wurde, reagierte er schnell aggressiv. Immer wieder gab es wenig erfreuliche Rückmeldungen von Seiten der Erzieherinnen. Von einer regulären Einschulung rieten sie den Eltern ab.

Leons Eltern waren verzweifelt. Sie wollten endlich Klarheit darüber, was mit ihrem Sohn nicht stimmte. Nach einer belastenden Zeit mit zahlreichen Abklärungen stand die Diagnose fest: Dyspraxie. Diese Entwicklungsstörung beruht auf einer neuronalen Fehlschaltung im Hirn. Die Verarbeitung, Koordination und Umsetzung von Bewegungsabläufen funktioniert bei betroffenen Kindern schlechter, sie brauchen daher für alltägliche Aufgaben mehr Zeit. Kinder mit Dyspraxie können gute intellektuelle Leistungen erbringen, da sie aber oft unbeholfen wirken und sich nur auf eine Sache konzentrieren können, wird oft an ihren kognitiven Fähigkeiten oder an ihrer Leistungsbereitschaft gezweifelt. Das kann fatale Folgen haben.

Die Diagnose brachte Erleichterung

Da die Symptome sehr unterschiedlich ausfallen können, dauert es oft sehr lang, bis die richtige Diagnose gestellt wird. Der deutsche Kinderpsychiater Schulte-Markwort sagt dazu im Hamburger Abendblatt: «Diese Teilleistungsstörung wird unterschätzt. Oft leiden Kinder schon Jahre daran, ohne dass jemand die Ursache für ihre Probleme erkannt hat. Die Kinder bekommen Probleme in der Schule, ihr Selbstwertgefühl leidet.” Gemäss Schätzungen sind 5-6% aller Kinder von einer Dyspraxie betroffen, davon etwa siebenmal mehr Jungs wie Mädchen. Die Entwicklungsstörung wächst sich gemäss Experten der Stiftung Kindergesundheit nicht aus, kann also auch im Erwachsenenalter noch festgestellt werden.

Leon hatte Glück: Entgegen der Prognose der Erzieherinnen konnte er regulär eingeschult werden, bekam Therapiestunden und angepasste Lernziele. Seine Mutter erinnert sich: “Ich bin so froh, dass wir es vor Schulbeginn haben abklären lassen und dass der behandelnde Spezialist, Dr. Jon Caflisch, die Dyspraxie erkannt hat. Rückblickend hat uns das viele Probleme erspart, da wir wussten, woran wir sind und Leon seitdem gezielt unterstützen können.”

In der Schule besteht noch Verbesserungspotenzial

Die Eltern von Leon und Silvan sind sich darüber einig, dass es im Schulbetrieb noch Verbesserungspotenzial gäbe: Wenn ihre Jungs beispielsweise bereits früher einen Laptop hätten benutzen dürfen, hätten sie sich mehr auf die Lerninhalte konzentrieren können anstatt darauf, leserliche Buchstaben zu Papier zu bringen. Weitere Herausforderungen sind Sammlungen von losen Blättern statt einer Benutzung von Schulheften sowie die zu früh geforderte Eigenverantwortung in Form von Wochenplänen. Da die Dyspraxie jedoch so wenig bekannt ist, fehlt manchen Lehrpersonen noch das Verständnis und eine gewisse Kulanz bei krakeliger Schrift und ungenauen Zeichnungen.

Leon ist inzwischen 13 Jahre alt und besucht die aargauische Bezirksschule. Das lästige Malen und Basteln hat er hinter sich gelassen, stattdessen liest er gern und viel. Silvan hat unterdessen Spass am Schwimmen gefunden. Und wenn die beiden doch mal wieder frustriert sind, weil andere schneller und geschickter sind, dann denken sie an ihr Vorbild Daniel Radcliffe. Der Harry-Potter-Darsteller hat sich nämlich trotz seiner Dyspraxie und seinen Problemen beim Schuhebinden nie von seinen Zielen abbringen lassen.

Erstveröffentlichung im Mamablog am 22. Oktober 2019.