“Mami, du siehst mich nicht!”, ruft das kleine Kind während es sich ein Kissen vors Gesicht hält. Wir mögen über diesen kindlichen Irrtum schmunzeln, aber tappen wir Erwachsenen nicht manchmal in ähnliche Fallen? Nur weil wir etwas nicht sehen, heisst das nicht, dass es nicht da ist. Mobbing zum Beispiel. Die Folgen von Mobbing werden massiv unterschätzt. Gespräche mit betroffenen Eltern und Beiträge wie “Nirgends in Europa werden so viele Schüler gemobbt wie in der Schweiz” haben mich zu dieser Überzeugung gebracht.
Was ist Mobbing? Von Mobbing spricht man, wenn jemand systematisch und wiederholt über einen längeren Zeitraum ausgegrenzt, gedemütigt oder verletzt wird. Aufgrund des grossen Machtgefälles kann sich das betroffene Kind nicht aus eigener Kraft daraus befreien. Mobbing gedeiht dort am besten, wo eine heterogene Gruppe von Menschen über längere Zeit (unfreiwillig) zusammen ist und gegenseitige Abhängigkeiten bestehen. Hierarchische Strukturen, Leistungsdenken und Bewertungen begünstigen Mobbing. Somit bieten Schulen einen idealen Nährboden für Mobbing – wenn die Sensibilität und das Wissen um die Gefahren nicht vorhanden ist.
Warum ist Mobbing so gefährlich?
Mobbing ist Misshandlung auf Raten. Ähnlich wie bei einem Missbrauch sind Kinder noch nicht in der Lage zu erkennen, dass sie keine Schuld tragen. Und je länger Kinder Mobbing ausgesetzt sind, desto mehr glauben sie, es läge an ihnen. Ihr Selbstwertgefühl erfährt tiefe Risse. Körperliche Verletzungen heilen, aber die seelischen bleiben. Wir alle brauchen das Gefühl, dazuzugehören, sonst werden wir krank. In der Hirnforschung wurde nachgewiesen, dass negative Beziehungs-Erfahrungen im Kindesalter Nervenbahnen im Gehirn derart vorspuren, dass spätere Erlebnisse der Ausgrenzung sich ungleich stärker auswirken als bei Menschen, welche als Kind keine allzu negativen Beziehungs-Erfahrungen hatten. Wer in der Schule gemobbt wurde, hat als junger Erwachsener ein dreifach erhöhtes Suizidrisiko.
Um das Thema Mobbing gibt es leider noch zu viele Missverständnissen. Mobbing ist kein individuelles, sondern ein system-bedingtes Phänomen. Entsprechend muss es auf Ebene des Systems gelöst werden, das heisst, in der Schule und in den Klassen. Die Aufforderung “Macht das unter Euch aus” mag bei einem Konflikt angebracht sein, bei Mobbing ist es der falsche Weg: Die Opfer haben keine Chance, sich selbst aus ihrer Situation zu befreien. Wir Erwachsenen müssen die Zeichen erkennen und eingreifen. Eltern tun ihren gemobbten Kindern keinen Gefallen, wenn sie sich direkt an die Mobber oder deren Eltern wenden. Im Normalfall geben Lehrpersonen und Eltern ihr Bestes. Schuldzuweisungen und fehlende Empathie drängen uns Menschen in die Defensive und können im schlimmsten Fall die Situation für ein gemobbtes Kind noch verschärfen. Wenn Eltern das Problem gegenüber Lehrpersonen, der Schulleitung oder anderen Eltern adressieren, braucht es daher viel Fingerspitzengefühl und Verständnis für Gruppendynamiken.
Es kommt darauf an, was wir vorleben
Wissen ist heute überall und jederzeit verfügbar. Die Vermittlung von Fachwissen wird daher an den Schulen in den Hintergrund treten. Vielmehr kommt es heute darauf an, unsere Kinder auf eine Zukunft des lebenslangen Lernens vorzubereiten. Lern-, Sozial- und Selbstkompetenz sowie die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen werden viel wichtiger. Nicht nur die Hirnforscher weisen regelmässig darauf hin, dass Lernen nur dann optimal funktioniert, wenn es mit positiven Emotionen verknüpft ist. Nicht nur deshalb muss Schule ein Ort sein, wo alle Kinder gern hingehen – ohne Angst vor Be- und Abwertungen.
Leider gibt es noch immer Schulen, an denen Mobbing bagatellisiert wird. Wenn Schulleiter davon überzeugt sind, dass in ihren Klassen alles in Ordnung sei, so ist das alarmierender als das Geständnis ‘ja wir haben diese Probleme genauso wie es ab und zu Lausbefall gibt’. Entscheidend ist eine bessere Aufklärung sowie der Wille, jegliches Verhalten, das Mobbing begünstigt, bereits im Keim zu ersticken. Man kann Kindern ja vieles versuchen beizubringen, aber letzten Endes machen sie nach, was wir ihnen vorleben. Wo Respekt, Wertschätzung und Zivilcourage vorgelebt werden, da gibt es weniger Nährboden für Mobbing. Das 30-Sekunden-Video Children See. Children Learn. bringt dies gut auf den Punkt.
Die Schweiz hinkt hinterher
Viele Länder gehen entschlossener gegen Mobbing vor als die Schweiz. An amerikanischen Schulen gibt es zum Beispiel 60seitige Infobroschüren zur Mobbing-Prävention. Dan Olweus, ein schwedisch-norwegischer Psychologe, gilt seit den 1980er-Jahren als Pionier in der Erforschung von Gewalt an Schulen. Auslöser seines Engagements war der Suizid von drei norwegischen Schülern, die massiv gemobbt wurden. In der Folge begannen die Behörden in Skandinavien und auch in Grossbritannien, den Zusammenhang zwischen Jugendsuiziden und Mobbing systematisch zu untersuchen um entsprechende Massnahmen ableiten zu können.
Im Sommer 2017 nahm sich die 13jährige Céline nach massivem Cybermobbing das Leben. Der 17jährige Raymond Krbavac wurde gemobbt, bis er Depressionen bekam. Aber im Gegensatz zu Céline hatte er Glück: Eine Kollegin konnte ihn im Herbst 2018 im letzten Moment vom geplanten Suizid abhalten. Inzwischen hat er seinen Lebensmut wiedergefunden und setzt sich heute mit einer Petition für eine wirksamere Aufklärung an Schulen ein. Denn eines ist klar: Die Erfahrungen der beiden Aargauer Teenager sind nur die Spitze eines Eisbergs – Tausende Kinder und Jugendliche leiden im Verborgenen, aus Scham, Angst und Resignation.
Wann endlich erhält die Mobbing-Prävention schweizweit den Stellenwert, der bitter nötig wäre? Was wir jetzt tun können, ist, achtsam und sensibel auf Signale reagieren, die darauf hinweisen, dass es unseren Schützlingen in der Schule nicht gut geht. Wir können unsere Kinder stärken, indem wir die Tipps von Fachleuten nutzen und wir können Raymonds Petition unterzeichnen.
Erstveröffentlichung im Mamablog am 2. Juni 2020.