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«Die Wäsche hänge ich später auf.»

Lieblingsnachbarinnen freuen sich auch über unangemeldete Besuche. Daher schaue ich kurz bei K. vorbei, bevor ich die Wäsche aufhängen werde. Auf ihrem Esstisch fallen mir die bunten, beschrifteten Post-it-Zettel auf. Mit einem Seufzen erklärt mir meine Nachbarin: “To-do-Listen bringen nichts, jetzt probiere ich es mit diesen Zetteln, um in die Gänge zu kommen. Ich schiebe manche Tätigkeiten oft lange vor mir her. Darüber könntest Du mal schreiben, über Aufschieberitis.” Mir fällt ein voller Wäschekorb ein, aber auch andere Dinge….

Wir alle kennen das: Wir schieben ungeliebte Aufgaben vor uns her und lenken uns mit Dingen ab, die angenehmer sind. Manche füllen die Steuererklärung erst in letzter Minute aus, andere schieben die Spesenabrechnung vor sich her oder den Anruf, um einen Vorsorgetermin zu vereinbaren. Je nach Ausprägung bezeichnet man dieses unerwünschte Verhalten als “Aufschieberitis”, “Prokrastination” oder “Erledigungsblockade”. Meist leiden nur die Betroffenen selbst unter ihrem Verhalten, die einen mehr, die anderen weniger. In Extremfällen ist jedoch auch das berufliche oder private Umfeld betroffen.

Der Grundstein zum Aufschieben wird oft in der Kindheit gelegt

Prokrastination hat nichts mit Faulheit zu tun, denn Aufschieber*innen sind meist sehr aktiv mit anderen Dingen beschäftigt. Viele Studentenwohnungen, die während Prüfungszeiten besonders gründlich geputzt werden, sind ein Beweis dafür. Ebenso ist das Aufschieben kein Zeichen von mangelnder Intelligenz, eher im Gegenteil: Wer kaum etwas für die Schule tun musste weil ihm alles leicht fiel, hat als Kind weniger gut gelernt, sich selbstdiszipliniert unliebsamen Aufgaben zu widmen – eine Fähigkeit, die sich später im Leben als durchaus nützlich erweist. Das kann tröstlich sein kann für die Kinder, die im Vergleich zu ihren Geschwistern oder Freunden härter arbeiten müssen, um die gleichen schulischen Leistungen zu erzielen.

Es macht allerdings einen Unterschied, welche Erfahrungen wir als Kinder mit fixen Strukturen und Disziplin gemacht haben. Studien zeigen, dass diejenigen Erwachsenen eher prokrastinieren, die als Kinder zu viel Kontrolle und wenig Eigenverantwortung erfahren haben. Wenn Kinder ständig ermahnt wurden, ihr Zimmer aufzuräumen, kann das dazu führen, dass sie später eher zu Unordnung neigen, da das Aufräumen eng und nachhaltig mit Gefühlen des Widerwillens verknüpft ist. Das Prokrastinieren ist somit eine Art rebellisches Verhalten des inneren Kindes.

Zu viel Handlungsspielraum lädt zum Prokrastinieren ein

Impulsive Menschen neigen eher zum Aufschieben, da sie sich leichter ablenken lassen. Ebenso tun sich diejenigen Leute schwerer, ins Handeln zu kommen, deren Alltag geprägt ist von vielen Freiheiten. Dazu gehören neben Studenten auch Selbständige sowie Hausfrauen und -männer. Auch wenn eine Tätigkeit kein klares Ende hat oder man wenig Wertschätzung dafür erhält, was bei der Hausarbeit oft der Fall ist, tendiert man zum Aufschieben. Dasselbe gilt für Perfektionisten: Diese haben oft hohe Erwartungen an sich und befürchten, diesen nicht gerecht zu werden. Dadurch fühlen sie sich regelrecht blockiert und nehmen eine Aufgabe erst gar nicht in Angriff.

Je besser man versteht, warum man bestimmte Dinge vor sich herschiebt, desto besser kann man dagegen vorgehen. In jedem Fall sollte man sich darüber im Klaren sein, dass es Geduld braucht, Verhaltensweisen umzuprogrammieren, die sich über viele Jahre in unserem Gehirn eingeprägt haben. Das Einüben neuer, nützlicherer Gewohnheiten geht nicht von heute auf morgen. Oft hilft es, sich von möglichen Ablenkungen fernzuhalten, was natürlich in Zeiten von Internet, Smartphones und Netflix ungleich schwieriger ist als früher. Ausserdem sollte man sich Teilziele setzen, sich für kleine Fortschritte belohnen und eine soziale Kontrolle etablieren, indem man seine Ziele einem wohlwollenden Partner oder Freund mitteilt. Die letztgenannten Tipps werden meine Nachbarin und ich in Zukunft umsetzen, die lassen sich gut verbinden mit einer gemeinsamen Tasse Kaffee.

Erstveröffentlichung im Mamablog am 28. Juli 2020.