Ich hatte meine Kollegin N. aufgrund ihres erschöpften Aussehens lange Zeit für ein ausgehfreudiges Partygirl gehalten. Doch irgendwann erfuhr ich, dass sich ihr aktives «Nachtleben» nur in den eigenen vier Wänden abspielte…
Wie alle werdenden Eltern hatten sich N. und ihr Mann T. sehr auf ihr Baby gefreut und fühlten sich vorbereitet auf das Leben zu dritt. Dann kam alles anders. Ihre Tochter L. erwies sich als Schreibaby und brachte ihre Eltern regelmässig an den Rand eines Nervenzusammenbruches. Als nach vielen Monaten endlich das Schlimmste überstanden zu sein schien, kam die nächste Herausforderung: lang andauernde und kräftezehrende Wutanfälle. L. zeigte einen sehr stark ausgeprägten Willen und konnte es nicht ertragen, wenn Dinge anders gemacht werden als sie es sich vorstellte.
N. berichtete, dass sie einmal ihre Tochter im Pyjama mit zum Einkaufen nehmen musste, da sie nach einer anstrengenden Nacht keine Energie und Zeit mehr hatte für einen morgendlichen Machtkampf. Nicht genug, dass die Nerven bereits blank lagen – zusätzlich brauchte es noch eine stoische Gelassenheit, um den vorwurfsvollen Blicken der Mitmenschen standzuhalten, die ihre Tochter für eine kleine Tyrannin hielten. Der Unterschied: Tyrannische Kinder kooperieren nicht, weil ihre Eltern zu wenig unterschieden haben zwischen deren momentanen Wünschen und echten Bedürfnissen. Hingegen ist die Impulsivität von willensstarken Kindern angeboren, und starke Gefühlsausbrüche kommen meist nur im Beisein ihrer Eltern vor.
Wenn konventionelle Ratschläge nicht helfen
Über Monate hinweg erschöpft und am Limit ihrer Belastbarkeit, suchten sich L.’s Eltern Hilfe bei verschiedenen Spezialisten. Deren gut gemeinte Ratschläge halfen ihnen aber nicht wirklich weiter. In ihrem Blog schreibt N. “So oft hatte ich das Gefühl, nicht verstanden zu werden. So oft spürte ich, dass man uns Eltern für unsere Situation verantwortlich machte.” Irgendwann stiess N. auf einen Blogbeitrag, in dem Jesper Juul den Begriff des “autonomen Kindes” verwendete. Für die Eltern war das der Wendepunkt: Endlich erhielten sie Antworten auf die vielen offenen Fragen im Umgang mit ihrer fordernden Tochter. Juul schreibt über autonome Kinder, dass “deren Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie weit über das gewohnte Mass hinauszugehen scheint”.
Autonome Kinder lassen sich nicht bestechen oder manipulieren, und sie reagieren allergisch auf pädagogische Konventionen, wie zum Beispiel eine kleinkind-gerechte Sprache. Es sind Kinder, die stets ihre Würde und Integrität wahren und stark darauf beharren, dass ihre Bedürfnisse (nicht Wünsche) beachtet und ihre Grenzen ernst genommen werden. Sie sagen nur ja, wenn wenn auch ihr “nein” akzeptiert wird. Das kann sehr anstrengend werden. Zum Glück gibt es auch die positiven Seiten, wenn Kinder so selbstbestimmt nach Autonomie streben. L. zum Beispiel ass und trank schon sehr früh selbständig, und lange vor ihrem zweiten Geburtstag benötigte sie bereits keine Windeln mehr.
Intuition und Authentizität als Wegweiser
L.’s Eltern wurde bewusst, dass ihre wiederentdeckte Intuition viel zielführender war als die Tipps von Aussenstehenden. So konnten sie einiges durch ihre Tochter lernen: Sie hörten damit auf, von sich in der dritten Person Singular zu sprechen und machten stattdessen klare “Ich”-Ansagen: “Ich will, dass Du vor dem Schlafengehen deine Zähne putzt.” L. kann dann selbst entscheiden, ob sie dieser Pflicht vor oder nach der Gutenacht-Geschichte nachkommt. Mit bewussten Entscheidungsmöglichkeiten innerhalb eines Rahmens bleibt die Autonomie der Kinder gewahrt und sie kooperieren.
Autonome Kinder reagieren sensibel auf die Stimmungen um sie herum, sie lassen sich nichts vormachen. Geht es den Eltern nicht gut, auch wenn sie das zu verbergen versuchen, wird das Kind diese Emotionen spiegeln. Alle Kinder brauchen authentische Erwachsene, die ihnen vorleben, wie man auch mit unerwünschten Gefühlen konstruktiv umgehen kann. Willensstarke Kinder sind hier kompromisslos und fordern diese Authentizität bedingungslos ein. Die wichtigste Erkenntnis für L.’s Eltern war, ihre Tochter so anzunehmen wie sie eben ist. Und sie stellen fest: Mehr Akzeptanz und Unvoreingenommenheit gegenüber einem anders tickenden Gegenüber ist eine Haltung, die uns allen zuweilen gut täte.
Erstveröffentlichung im Mamablog am 17. September 2020.