“Ich habe nie gesagt, dass ich Deinen neuen Freund unsympathisch finde, das bildest Du Dir ein.” Laras Freund hat sich soeben von ihrer Familie verabschiedet und wie so oft hält ihre Mutter mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg: “Du fuchtelst immer so wild mit den Händen, wenn Du etwas erzählst. Mich nervt das. Ihn wahrscheinlich auch.” Seit Lara sich erinnern kann, hört sie von ihrer Mutter, wie unpassend ihr Verhalten oder wie falsch ihre Wahrnehmung sei. “Du bist zu empfindlich”, ist auch so ein Standardsatz von ihr. Je länger je mehr wird Lara an ihren eigenen Gefühlen und Erinnerungen zweifeln – und damit auch an sich selbst.
Wenn Menschen mit ihrem manipulativen Verhalten bei anderen psychische Störungen hervorrufen, dann spricht man von „Gaslighting“. Dieser Begriff ist der Titel eines amerikanischen Psychothrillers der 40er-Jahre, in dem ein Mann das Gas runterdreht, so dass die Gaslaterne zu flackern beginnt. Seiner Frau versichert er glaubhaft, dass sie sich das Flackern nur einbilden würde. Er redet ihr weitere Dinge ein, die nicht stimmen. Damit will er sie in den Wahnsinn treiben, um an ihre Juwelen zu kommen.
Manipulationen, die krank machen
Gaslighting ist eine Form von seelischer Gewalt, bei der der Täter seinem Opfer die Worte im Mund verdreht, ihm die Berechtigung seiner Gefühle abspricht, ihm unangemessenes Verhalten oder eine falsche Sichtweise vorwirft. In ihrem Buch “Der Gaslight-Effekt” schreibt die amerikanische Psychoanalytikerin Dr. Robin Stern: “Die Betroffenen wissen, dass etwas nicht stimmt – aber sie können es einfach nicht benennen.” Der Begriff “Gaslighting” ist in den englischsprachigen Ländern geläufiger als bei uns. Das hat Vorteile: “Was einen Namen hat, kann bekämpft werden”, schreibt Stern. “Es erstaunte mich (…) immer wieder – sowohl als Therapeutin wie auch im Privatleben –, zu erleben, welch lähmende Selbstzweifel Gaslighting verursachen kann.” Im Extremfall entwickeln die Opfer Angstzustände, Depressionen oder andere psychische Störungen.
Manipulationen in der Erziehung sind besonders folgenschwer. Kinder sind angewiesen auf verlässliche Bindungen und sie müssen ihren Bezugspersonen bedingungslos vertrauen können. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben und muss ein Kind sich ständig verbiegen für die elterliche Zuneigung, dann wird das Kind Schaden nehmen.
Den Missbrauch erkennt man erst im Nachhinein
Warum fügen manche – wenn auch sehr wenige – Eltern ihren Kindern solche Schäden zu? Oft sind Gaslighter narzisstisch veranlagt oder sie verhalten sich deshalb so destruktiv, weil sie als Kinder selbst unter kaputten Beziehungen gelitten haben und womöglich nur das Verhalten der eigenen Eltern kopieren. Ähnlich wie beim Mobbing stärken die Täter ihr eigenes Selbstbewusstsein, indem sie dasjenige des Gegenübers demontieren.
Typisch für Gaslighting ist, dass betroffene Kinder erst im Rückblick erkennen, dass sie emotional misshandelt wurden. Erst als Erwachsene begreifen sie, wie sie durch perfide Manipulationsmuster zum Opfer wurden und dass sie nicht selbst an ihrer Situation schuld sind. Es kann sehr viel Zeit und therapeutische Unterstützung brauchen, bis sie sich psychisch stabilisiert und ein gesundes Selbstbewusstsein aufgebaut haben.
Lernen, auf die innere Stimme zu hören
Gaslighting ist eine Extremform von Manipulation, die Spitze eines Eisbergs. Manipulationen beginnen allerdings schon im Kleinen. Bei den vielen Erwartungen, Ratschlägen und Meinungen, die täglich auf unsere Kinder einprasseln, besteht die Gefahr, dass die eigene innere Stimme immer leiser wird. Wenn wir sie darin unterstützen, ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse ernst zu nehmen, sind sie weniger abhängig von der Meinung anderer und somit besser davor geschützt, manipuliert zu werden.In einem ersten Schritt sollten wir bei uns und in unserem Umfeld auf eine respektvolle Sprache achten, weniger werten und unseren Mitmenschen ihre Gefühle nicht absprechen. Sätze, die so ähnlich klingen wie die von Laras Mutter, sollten wir vermeiden.
- Lara und ihre Mutter sind fiktive Personen
Erstveröffentlichung im Mamablog am 5. November 2020.