Warum nehmen sich junge Menschen das Leben? Warum erkennen wir die Warnzeichen nicht? In einem “Abschiedsbrief” an meinen verstorbenen Nachbarn versuche ich, Antworten zu finden….
Lieber Moritz*
“Ich geh noch in die Stadt.” Mit diesen Worten hast Du Dich an einem Sonntagnachmittag vor drei Jahren verabschiedet. Nicht für die nächsten Stunden – sondern für immer. An diesem Tag hast Du Dir das Leben genommen. Du hast keinen Abschiedsbrief hinterlassen. So bleiben viele quälende offene Fragen:
Warum hast Du das getan?
Deine Lehrerin hat dich als pflichtbewussten Schüler in Erinnerung, der tiefsinnige Aufsätze geschrieben hat und im Unterricht ruhig und unauffällig war. Du hattest Freunde und Kollegen, alles schien normal. Wohl niemand hat mit einer solch erschütternden Nachricht gerechnet, wenige Monate nach Deinem Übertritt an die Kantonsschule.
Vielleicht hast Du an Depressionen gelitten und wusstest es einfach nicht? Die meisten Leute wissen viel zu wenig über diese Krankheit, obwohl sie weit verbreitet ist und oft zu Suizidversuchen führt. Solange wir Witze machen über Leute, die mit dem “gelben Wägeli” abgeholt werden, solange werden viele von uns sich nicht eingestehen, dass sie psychische Probleme haben. Wir bemühen uns darum, nach aussen “normal” zu sein, auch wenn wir längst spüren, dass unsere Gefühle und Gedanken längst nicht mehr normal sind.
Viele Leute denken ja, man würde depressiven Menschen ihre Probleme ansehen, da sie traurig und antriebslos werden und sich zurückziehen. Aber das stimmt nicht immer. Bei einem Elternabend der Kantonsschule vor einigen Monaten ging es unter anderem um die Anlaufstellen für Schüler*innen in persönlichen Krisen. Ich wollte wissen, welche präventiven Massnahmen es gäbe. Der Lehrer meinte, man würde es den Jugendlichen anmerken, wenn es ihnen nicht gut ginge und sie darauf ansprechen. Ich bin überzeugt: Das genügt nicht. Deine Verzweiflung hat man Dir nicht angesehen. Zwei Schüler deiner Jahrgangsstufe sehen es ähnlich. Mit ihrer Maturarbeit haben sie sich zum Ziel gesetzt, aufzuklären und zu sensibilisieren. Dafür drehten sie einen Film über Depressionen, der unter die Haut geht.
Warum hast Du Dich niemandem anvertraut?
Depressionen gehen oft mit einer Leere und Gefühllosigkeit einher, die für Aussenstehende kaum erkennbar und schwer verständlich sind. Zu lange versuchen die Betroffenen, allein mit ihren Problemen fertig zu werden. Der Kommunikationsexperte Daniel Göring hat nach seinem Suizidversuch den Weg zurück ins Leben gefunden. In seinem Buch “Der Hund mit dem Frisbee” reflektiert er, wie er sich an seinem absoluten Tiefpunkt nicht mehr vorstellen konnte, wie sehr seine Angehörigen leiden würden, wenn er nicht mehr da wäre. Seine Krankheit führte zu einer völligen Gefühllosigkeit. Lieber Moritz, ging es Dir auch so?
Du bist in einem liebevollen Umfeld gross geworden, nichts hat auf ein unlösbares Problem hingedeutet. Und dennoch war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Hast Du ausserhalb Deiner Familie Dinge erlebt, die Dein Vertrauen in andere und Deinen Selbstwert zu stark beschädigt haben? Warst Du gegenüber neuen Leuten deshalb so reserviert, weil Du Deine grosse innere Einsamkeit im Lauf der Zeit hinter einer dicken Schutzschicht verborgen hast? Was hätte Dir geholfen? Vielleicht eine tiefe, vertrauensvolle Beziehung zu einem Menschen, der Deine seelischen Verletzungen sehen durfte, indem er sich selbst verletzlich zeigte.
Warum hat keiner etwas bemerkt?
Warum hat Dein Umfeld nicht erkannt, was mit Dir los war? Kein Mensch hatte sich vor 2001 vorstellen können, dass Terroristen eines Tages Flugzeuge in Wolkenkratzer steuern würden. Rückblickend entdeckten Experten viele Indizien, die auf das Attentat hingedeutet hatten. Bei einem plötzlichen Suizid könnte es ähnlich sein: Unser Radar ist nicht ausgerichtet auf einen Super-GAU. Mit den Erkenntnissen nach der Katastrophe beurteilt man alles anders. Viele Gespräche und Alltagssituationen bekommen im Nachhinein eine andere Bedeutung.
Lieber Moritz, dein Suizid macht mich noch immer betroffen. Genauso wie die Tatsache, dass sich in den letzten drei Jahren mehr als 100 weitere Jugendliche in der Schweiz das Leben genommen haben. Junge Menschen, die wie Du nicht die Erfahrung gemacht haben, dass es Auswege gibt, Licht am Ende des Tunnels. Menschlicher Schmerz ist im Alltag oft nicht sichtbar, aber er ist da. Daher wünsche ich mir, dass wir besser darin werden, hinter Fassaden zu blicken, genauer hinzuhören, nachzuhaken, Hilfe anzubieten und anzunehmen – bevor es zu spät ist.
Ich denke an Dich.
Deine Nachbarin
*Name geändert
ZHAW-Broschüre «Heb der Sorg»
https://www.wie-gehts-dir.ch
https://www.147.ch
https://www.143.ch
Erstveröffentlichung im Mamablog am 26. Januar 2021.