Was fällt Ihnen spontan zum Stichwort «Lernen» ein? Neugier, Spiel und Entdeckerfreude? Oder Schulstress, Frust und Konflikte? Vielleicht hängen Ihre Assoziationen davon ab, wie alt Ihre Kinder sind. Das in der Schule geforderte Faktenwissen und Auswendiglernen scheint jedenfalls noch immer einen hohen Stellenwert zu haben, obwohl es wenig dazu beitragen wird, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern.
Faktenwissen wird in Zukunft weniger gefragt sein. Stattdessen sollten wir die Fähigkeiten weiterentwickeln, welche nicht an Computer delegiert werden können, wie zum Beispiel Kreativität, Problemlösungskompetenz, Empathie, soziale und digitale Kompetenzen. Moderne Firmen haben dies erkannt und schaffen neue Rahmenbedingungen für lebenslanges Lernen und eine bessere Zusammenarbeit. Einige Initiativen aus der Arbeitswelt könnte man aus meiner Sicht auch auf die Schulen übertragen.
Das jährliche Entwicklungsgespräch
Viele Mitarbeitende werden von ihren Vorgesetzten zu jährlichen Gesprächen gebeten, bei denen sie an ihren Zielen gemessen und bewertet werden. Dieses Ritual stammt aus einer Zeit, in der Output noch besser messbar war. In unserer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft werden viele Menschen heute jedoch für ihre Ideen und ihre Problemlösungskompetenz eingestellt. Dafür ist vor allem intrinsische Motivation erforderlich, welche schlecht vereinbar ist mit dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche. Immer mehr Firmen ersetzen daher die jährlichen Benotungen durch regelmässige Feedback- und Entwicklungsgespräche.
Und in den Schulen? Da spielen Noten noch immer eine wichtige Rolle, auch wenn das immer wieder kritisiert wird, gerade bei den Jüngsten. (Lesen Sie dazu auch das Interview: «Wir denken oft, Noten seien gerecht – aber das täuscht»). Gute Noten erleichtern den Berufseinstieg, sie bieten jedoch keine Garantie für ein gelingendes (Berufs-)Leben. Gut möglich, dass erfolgreiche Karrieren in Zukunft ganz andere Fähigkeiten erfordern, als sie in unseren Bildungsinstituten gemessen werden. Zielführender als eine Bewertung durch Noten wäre es, die Stärken jedes Einzelnen zu erkennen und zu fördern, anstatt die gleiche Messlatte für alle zu verwenden.
Coaches als Vertrauenspersonen
Eine gute Führungskraft hat Zeit für ihre Leute, hört zu, coacht, inspiriert und beseitigt Hindernisse, welche die Motivation der Mitarbeitenden blockieren könnten. Im Vergleich dazu haben Lehrpersonen kaum Möglichkeiten, sich ausreichend um die einzelnen Kinder zu kümmern. Die Zeit zwischen zwei Lektionen, respektive zwischen Tür und Angel, genügt nicht für den Aufbau enger Beziehungen. Stabile und verlässliche Beziehungen sind jedoch eine Grundvoraussetzung dafür, dass ein Kind sich gut entwickeln kann.
Ebenso wie im Management und im Sport könnte man Coaches einsetzen, die die Kinder während ihrer gesamten Primarschulzeit begleiten. Diese wären Vertrauenspersonen für die Kinder und Sparringpartner für Eltern und Lehrpersonen, und sie hätten die ganzheitliche, individuelle Entwicklung jedes Kindes im Blick. Mit einem ähnlichen Betreuungsschlüssel wie in Firmen könnte man einige Probleme bereits im Keim ersticken und sich manche Interventionen von Schulsozialarbeiter und Psychologinnen ersparen.
Zauberwort Diversität
Viele Unternehmen setzen auf Diversität bei ihrer Belegschaft, weil sie davon überzeugt sind, dass Vielfalt zu kreativeren Lösungen und Innovationen beiträgt. Ausserdem adressiert eine Kultur der Diversität unser Bedürfnis, zu einer Gemeinschaft dazuzugehören und gleichzeitig als Individuen wahrgenommen zu werden. Gerade bei Kindern und Jugendlichen, die sich oft anpassen (müssen), um akzeptiert zu werden, wäre eine Haltung wünschenswert, in der die Einzigartigkeit des Einzelnen mehr wertgeschätzt würde. Diversität an Schulen könnte bedeuten, dass man mehr von- und miteinander lernt und dass neben den kognitiven Leistungen die individuellen Stärken der Kinder mehr gesehen und gefördert würden, wie zum Beispiel Mut, Einfühlungsvermögen, Verhandlungsgeschick, kritisches Denken, Geduld und Kreativität.
Der Neurobiologe Gerald Hüther, der die moderne Hirnforschung einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat, betont: «Das Wichtigste, was wir unseren Kindern mitgeben sollten, ist, dass sie die Lust am Lernen niemals verlieren.» Was haben wir in dieser Hinsicht bereits erreicht? Was meinen Sie?
Erstveröffentlichung im Mamablog am 17. August 2021.