David ist zehn Jahre alt und ein ruhiger und zurückhaltender Junge. In der Schule meldet er sich kaum, auch wenn er die Antworten weiss. Nachmittags zieht er sich gern zurück und spielt allein. Obwohl er dabei zufrieden ist, finden seine Eltern, er solle sich öfter mit anderen Kindern verabreden. Sie verwechseln seine introvertierte Wesensart mit Schüchternheit. Diese Annahme ist falsch, denn Schüchternheit kann man sich abgewöhnen, Introvertiertsein nicht.
Man kann sich «Introvertiert» und «Extrovertiert» als zwei verschiedene Betriebssysteme vorstellen. Mit beiden kann man arbeiten, und beide erfüllen weitgehend die gleichen Funktionen, allerdings auf unterschiedliche Weise.
Extrovertiert veranlagte Menschen blühen auf, wenn sie unter Menschen sind. Sie benötigen viele Reize von aussen und gewinnen daraus Energie. Sie wirken offen und kontaktfreudig. Im Gegensatz dazu verbrauchen introvertiert veranlagte Menschen Energie, wenn viele Leute um sie herum sind. Sie können sich gut mit sich und ihren Gedanken beschäftigen, ohne dass ihnen langweilig wird. Da ihr Hirn eintreffende Reize gründlicher verarbeitet, brauchen sie wenig äussere Stimulation und bevorzugen ruhigere Umgebungen.
Unsere Gesellschaft ist definitiv geprägt von extrovertiertem Verhalten, heutzutage noch mehr als früher. Daher erwarten wir – ob bewusst oder unbewusst –, dass unsere Kinder sich an dieses Ideal anpassen. Wir scheinen nur eine Anleitung zu kennen, die fürs System «Extrovertiert».
Die Schulzeit ist eine Herausforderung
Introvertierte stellen irgendwann fest, dass diese für sie nicht funktioniert, und geben sich die Schuld daran. Vor allem junge Menschen kommen nicht auf die Idee, dass es nicht an ihnen liegt. Wenn sie dauerhaft versuchen, die falsche Anleitung auf sich anzuwenden, leidet die «Performance».
Die Schulzeit stellt für viele introvertierte Kinder eine Herausforderung dar. Die Erwartung, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen, der zunehmende Fokus auf Teamarbeit und das lange Zusammensein mit vielen Menschen können für sie anstrengend werden, vor allem dann, wenn Lehrpersonen die Sensibilität fürs «Betriebssystem Introvertiert» fehlt. Wichtig ist, dass spontane, mündliche Mitarbeit nicht überbewertet wird und dass stille Kinder immer wieder Rückzugsmöglichkeiten bekommen, um ihre Akkus aufzuladen.
Introvertierte sind häufig in Gedanken versunken, daher wirken sie eher ernst und distanziert. Diese Annahme sowie die Tatsache, dass zu viele Menschen sie auf Dauer ermüden, können leicht als Desinteresse verstanden werden. Introvertierte sind jedoch sehr loyale Freunde! Allerdings brauchen sie mehr Zeit, um anderen ihr Vertrauen zu schenken, und sie bevorzugen wenige, dafür tiefere Beziehungen.
«Talentiert, einzigartig und liebevoll»
Da introvertierte Kinder so damit absorbiert sind, in lebhaft-lauten Umgebungen zurechtzukommen, bleiben ihre positiven Eigenschaften leider häufig im Verborgenen. Typische Stärken sind Zuverlässigkeit, Gründlichkeit, Kreativität, Empathie, eine gute Beobachtungsgabe und Konzentrationsfähigkeit.
Dass man auch mit dem «Betriebssystem Introvertiert» sehr erfolgreich sein kann, hat 2012 die zurückhaltende amerikanische Anwältin Susan Cain eindrucksvoll bewiesen. In ihrem millionenfach angeklickten Video «Die Macht der Introvertierten» schildert sie ihre eigenen Erfahrungen und gibt damit anderen stillen Menschen eine passende Anleitung dafür, wie sie ihre bisher verborgenen Stärken besser nutzen können.
In ihrem 2017 erschienenen Buch «Still und Stark» schreibt Cain: «Introvertierte Kinder sind oft talentiert, einzigartig und liebevoll. Und trotzdem denken sie, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Das muss sich ändern.»
Diese Botschaft ist bei uns noch zu wenig angekommen, denn noch immer glauben junge Leute wie David, sich verbiegen und scheinbare Defizite bekämpfen zu müssen. Je besser wir verstehen, wie das «Betriebssystem Introvertiert» funktioniert, desto besser können wir unsere stillen Kinder darin unterstützen, auf ihre Stärken zu setzen.
Erstveröffentlichung im Mamablog am 28. August 2018.