Mein «Warum»
Es begann mit einem Nachmittagsspaziergang im Januar 2018.
Ich sah einen Aushang, in welchem ein 16-jähriger Junge aus unserer Strasse gesucht wurde. Auf dem Nachhauseweg klingelte ich bei der Familie, um zu erfahren, ob der Sohn wieder aufgetaucht sei.
Man hatte ihn gefunden. Tot.
Er hatte sich das Leben genommen.
Ein paar Wochen später erfuhr ich, dass er introvertiert war.
Und er war nicht die erste und einzige Person in meinem Umfeld, welche sich das Leben genommen hatte und als introvertiert bezeichnet wurde.
In den darauffolgenden Wochen liess mich diese Frage nicht mehr los:
Sind introvertierte Menschen besonders suizidgefährdet?
Im Internet habe ich diese Hinweise gefunden:
«28 Jahre lang habe ich in dem Glauben gelebt, extrovertiert zu sein bzw. sein zu „müssen“, um anerkannt und gemocht zu werden. Ich habe mich zu extrovertiertem Verhalten gezwungen und mich selbst gehasst, wenn es mir nicht gelang.»
«Ich bin sehr glücklich, deinen Blog entdeckt zu haben. Denn bis vor einiger Zeit wusste ich gar nicht, dass ich introvertiert bin. Ich dachte – durch äussere Konditionierung bedingt – ich sei „nicht normal.“ Das wurde mir zumindest so in der Kindheit immer wieder gesagt. Danke für diese genaue Beschreibung über ein Thema, das meistens irgendwie totgeschwiegen wurde.»
«Ich habe dieses Jahr aufgehört, nach einer psychischen Störung an mir zu suchen und fast schon erleichtert festgestellt, dass es wohl eine Introversion ist, die mich sein lässt wie ich bin.»
Nicht das Introvertiertsein ist das Problem, sondern vielmehr dessen Bewertung.
Wir leben in einer Gesellschaft, welche extrovertierte Eigenschaften bevorzugt. Meistens sind extrovertierte Menschen kontaktfreudiger, geselliger, offener und geschickter im Small Talk. Im Vergleich dazu werden introvertierte Menschen als ernst, zu ruhig, zurückhaltend oder auch eigenbrötlerisch wahrgenommen.
Viele introvertierte Menschen glauben, dass sie sich anpassen müssten ans extrovertierte Idealbild. Das kostet viel Energie. Viel zu lang wurde Introversion von der Gesellschaft als etwas Defizitäres wahrgenommen. Und wer sich als defizitär wahrnimmt, wird nicht ohne Impulse von aussen erkennen, das Introversion auch wichtige Stärken mit sich bringt.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Introversion und Suizidgefährdung?
Ich denke schon.
Häufig sind Suizide auf psychische Probleme zurückzuführen, zum Beispiel auf Depressionen.
Bei extrovertierten Menschen wird eine Depression vom Umfeld eher wahrgenommen, da diese mitteilsamer sind.
Introvertierte Personen hingegen neigen zum Rückzug und zum Grübeln. Gerade Jugendliche wollen nicht als schwach oder «psycho» gelten. Daher ist es denkbar, dass sie sich nach aussen hin einen starken Panzer zulegen und psychische Probleme unentdeckt bleiben.
Wie erkennt man den Unterschied zwischen (normaler) pubertärer Verschlossenheit und einem Rückzug mit ernsthaften Suizidgedanken? Eine Gratwanderung.
In Kürze:
Introvertierte Jugendliche sind häufiger den folgenden mentalen Risiken ausgesetzt:
- Sie glauben, sich anpassen und verbiegen zu müssen, um dazuzugehören.
- Die Hemmschwelle, sich jemandem anzuvertrauen, ist erhöht. Man(n) macht Probleme mit sich selbst aus.
- Mobbing und deren Spätfolgen schaden dem Selbstwertgefühl.
- Depressionen werden nicht erkannt, da die Symptome unklar oder untypisch sind.
- Weitere Risikofaktoren bleiben unerkannt, beispielsweise Hochsensibilität, Autismus, Suchtverhalten.
- Das pubertäre Gehirn ist noch nicht voll entwickelt und neigt eher zu Impulsivität.
Für Eltern gibt es wohl nichts Schlimmeres, als ein Kind durch Suizid zu verlieren. Das wurde mir im Kontakt mit der betroffenen Familie immer wieder schmerzhaft vor Augen geführt.
Was tun?
Ich begann damit, Menschen zu sensibilisieren und über Introversion aufzuklären. Daraus ergaben sich mehrere Veröffentlichungen, Interviews, Vorträge sowie diese Website.
Meine Mission: Missverständnisse über Introversion zu beseitigen, um damit die Selbstkenntnis und -akzeptanz sowie die psychische Gesundheit von Introvertierten zu stärken.